„Die Ästhetik des Rauen“: Foto-Aktion über den gefährlichsten Ort Berlins

Nora Bibel wohnt im QM-Gebiet, ist Fotografin und unterrichtet das Fach an der HMKW Berlin. Ihre Studierenden erkundeten ein Semester lang den Kotti, die Arbeiten sind ab dem 26.1.23 im Aquarium ausgestellt. Das Projekt wurde von der Aktionsfondsjury, der Gesellschaft für Humanistische Fotografie e.V. und XB-Lab unterstützt.


Bibel lebt schon seit vielen Jahren am Oranienplatz. Sie findet es spannend zu beobachten, wie sich das Quartier verändert: „Fotografie kann dokumentieren und durch stille Bilder Zeit festhalten“. Für ihre Lehrtätigkeit kam ihr eine Idee: Das Viertel mit Fotografien und Interviews festhalten, ganz nach dem Vorbild von Paul Strand.

Der amerikanische Fotograf war ein Pionier der dokumentarischen Fotografie und versuchte mit Bildern das Wesen der Menschen und ihres Umfelds festzuhalten. Genau so sollte der Charakter der Gegend um den Kotti skizziert und vermittelt werden, wie sehens- und lebenswert es hier ist.

Nur wollte Nora Bibel nicht selbst fotografieren, sondern auf den frischen Blick ihrer Bachelor- und Master-Studierenden zurückgreifen. Sie sollten dem Charakter des Kottis nachspüren, die Ergebnisse würden in einer Broschüre und einer Ausstellung präsentiert werden. Das bedeutete für einige Studierende ihre Vorurteile zu Hinterfragen. Manche sind neu in der Stadt und für englischsprachige Reiseführer gilt der Kotti als der „most dangerous place“ in Berlin, auf dem Drogendelikte und Polizeirazzien zum Alltag gehören.

Bibel nahm einigen ihrer Studierenden die Angst, sich auf den „gefährlichsten Ort“ Berlins zu wagen. Beim ersten Rundgang klebten sie an ihr, danach fanden sie alles halb so wild. Ihr Bild hatte sich geändert – ein gutes Zeichen für die Bilder, die sie schaffen würden. Sie lernten die Gegend anders kennen, sie beobachteten, sprachen mit der Bewohnerschaft, tauchten in den Mikrokosems des Viertels und seiner Vielfalt ein, erklärt Bibel.

Sie sollten ein Konzept entwickeln, über das, was sie in Bildern ausdrücken möchten. „Ein Bild entsteht wenn ich weiß, was ich sagen will“ meint Bibel. Es kann eine Szene, ein Detail, ein Graffiti sein. Zusätzlich sollten sie eine Porträt-Reihe der Bewohnenden und Nutzenden des Gebiets machen, aber diesmal mit analogem Equipment. Eine weitere Begrenzung: Nur ein Mensch pro Belichtung.

In einer Welt Fotos so selbsverständlich sind wie Atmen sind die Begrenzung auf 36 Fotos, so viele Bilder gibt ein Analog-Film her, eine Herausforderung. Aus pädagogischer Sicht eine hervorragende Übung, weiß Bibel: Sie müssen sich auf das Bild konzentrieren. Gleichzeitig hatten sie für die Ausrüstung und dem Entwicklungs-Prozess aus früheren Jahrhunderten ein archäoligisches Interesse. Eine coole Kombi, meint Bibel.

Bibel lernte Fotografie noch analog. Ob ein Film belichtet wird, oder ein Sensor, ist ihr egal, das System ist dasselbe. Ihre Studierenden würden feststellen, dass viele der Instagram-Filter die Effekte analoger Fotografie nachahmen. Bibel arbeitet für Firmen und Redaktionen, macht Reportagen und Reisefotografie, daraus entstanden zwei Bücher, siehe die dazu am Ende des Artikels.

Die fotografische Feldforschung wurde in einer Broschüre festgehalten, damit die Studierenden das Layouten ihrer Arbeiten lernen. Zusammen mit der Gestaltung der Ausstellung übten sie das Präsentieren ihrer Werke, für Fotograf:innen ist das die halbe Miete. Apropos Finanzierung, als Bewohnerin des QM-Gebiets konnte Nora Bibel die Förderung des Aktionsfonds für ihr Vorhaben nutzen, die zusätzlich zur Gesellschaft für humanistische Fotografie e.V. das Projekt unterstützten.

Die Ergebnisse können während einer 5-tägigen Ausstellung im Aquarium, Skalitzer Str. 6, 10999 Berlin besichtigt werden. Dabei kommen großformatige Banner zum Einsatz sowie begleitetende Projektionen im Schaufenster, Vernissage ist am 26.01.2023, 19 Uhr, die Ausstellung Fr. 27.01. – So. 29.01.23, 13 – 19 Uhr.

Wer mehr über die Arbeit der Bewohnerin des Viertels Nora Bibel erfahren will:

  • Ihre Homepage
  • Links zu ihren Reisebüchern: Eins über Indien: Family comes first, eins über Viet-Nam: Que Hong.
  • Ihr Tipp für Fotografie-Interessierte: die Webseite photography-now.de
  • Hier zwei Lieblingsfotos ihrer eigenen Arbeiten, ein Porträt eines Landwirts und eins seines Waldes.

Erklärung: Bei Petkus in Teltow-Fläming arbeitet Ferdinand von Lochow auf dem alten Stammsitz seines Urgroßvaters, dem bekannten "Roggenkönig". Als Ökolandwirt baut er wegen der anhaltenden Trockenheit neuerdings auch Hirse an. In seiner Forstwirtschaft hat er es sich zur Aufgabe gemacht, den Wald nach und nach umzubauen – weg von einfältigen Nadelhölzern, hin zu einem gesunden Mischwald. Mehr dazu auf dieser Webseite

Alle Bilder im Beitrag, bis auf das der Kamera: Copyright Nora Bibel.