Prinz von Preußen weicht König von Deutschland

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Am 21.8,22 verwandelte sich der Heinrich- in den Rio-Reiser Platz, ein preußischer Prinz wich dem Sänger der Protestband Ton Steine Scherben - der sich singend zum König von Deutschland krönte. Zur "geilsten Ü60-Party Kreuzbergs", wie Moderatorin Gloria Viagra meinte, erschienen Weggefährten, Familienangehörige, Würdenträgerinnen und Würdenträger aus Bezirks- und Bundespolitik. Was dort geschah und gesagt wurde lesen Sie hier.


Der Heinrichplatz war voll, von der Bühne kam leise Musik, das Publikum und die Band hatten ungefähr dasselbe Alter: nicht mehr ganz jung. Die Ereignisse und Gründe für die Umbenennung des Platzes lagen auch mehr als 40 Jahre zurück. Damals war Kreuzberg ein brodelnder Protest-Kessel und die Band Ton Steine Scherben lieferte den passenden Soundtrack.

In der Zeit entstand die Partei der Grünen, damals hießen sie noch Alternative Liste, heute stellen sie die Bürgermeisterin Kreuzbergs und sind Regierungspartei. In der Zeit besetzte man Häuser, damit sie nicht abgerissen wurden, heute werden diese für Millionen gehandelt. In der Zeit wollte man Autobahnen verhindern, die mitten durch Kreuzberg führen sollten, heute will man die A100 verhindern. In einem Wort: Es hat sich viel geändert.

Der Heinrichplatz war zum bersten voll, man fühlte sich fast wie bei einer Demo © QM ZKO

Auch ohne ihren legendären Texter und Sänger waren Ton Steine Scherben solide, allerdings war die Lautstärke etwas gedrosselt, oder gentrifziert, aber laut genug, um gehört zu werden. Bei den großen Hits sang das Publikum mit: Keine Macht für niemand unterschrieben die meisten lautstark, beim Rauch Haus Song war es ähnlich, an dem Abend war Kreuzberg irgendwie unser aller Haus und niemand kriegt uns da raus.

Bedeutung für die LGBTQ-Community

Das war auch Tenor der flotten und schlagfertigen Moderation von Gloria Viagra: Wir würden uns die Kieze zurückholen, dann die ganze Stadt. Sie sprach von der Bedeutung der Umbenennung für die Sichtbarkeit der LGBTQ-Community, als Zeichen sei das längst überfällig gewesen. Die Drag Queen fügte hinzu, sie akzeptiere höchstens Rio als König, bzw. als Ikone, bevor sie den Reigen der Rednerinnen und Redner einleitete.

Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann erwähnte die Debatte im Bezirksparlament, die zur Namensänderung führte, meinte Ton Steine Scherben stünden symbolisch für Kreuzberg und fügte sinngemäß hinzu, dass ohne die damaligen Rebellen man an dem Tag unter einem Autobahnzubringer gestanden hätte. Aber es bliebe noch viel zu tun: Die A100, Mieter und Gewerbemieter schützen und noch viel mehr.

Noch ist die Stele bedeckt, aber Moebius, Herrmann, Roth und Pallat scharren mit den Hufen  © QM ZKO

Pfeifkonzert, Spiralnebel und Kreuzberg

Auf die Bürgermeisterin folgte Claudia Roth, aktuell Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, in einem früheren Leben zweijährige Managerin der Ton Steine Scherben, bevor sie als Pressesprecherin der Grünen in die Politik ging. Sie lieferte eine inspirierte Rede, geschickt bespickt mit zahlreichen Song- und Interview-Zitaten Rio Reisers. Ein Pfeifkonzert wollte ihre Rede unterbrechen, sie unterbrach es jedoch mit einem überzeugten „Nein, ich haue nicht ab!“, laut genug, um das Pfeifen verstummen zu lassen. Sie erinnerte an eine Antwort des Sängers, er würde eigentlich am äußersten Ende eines Spiralnebels leben, aber nirgendwo lieber als in Kreuzberg. Und an das wofür er stand: Leben und lieben, wie und wen man will, sich treu bleiben, Rassismus und Homophobie bekämpfen, die Demokratie verteidigen - eben durch Proteste.

Nichte und Bruder erinnern an Rio

Es folgte die Nichte von Rio Reiser, Patricia Moebius. Sie schilderte, wie die Träume ihres Onkels weiterleben würden: dank eines Rio-Reiser Preises für deutschsprachige Songwriter. Moebius las auch das Grußwort Klaus Lederers vor, dem Berliner Kultursenator. Der Platz sei doch lieber nach einem Sänger als nach einem preußischen Prinz und General benannt, Ton Steine Scherben hätten einen Nerv getroffen und deutsche Rockgeschichte geschrieben und auch er zitierte Reiser: Alles verändert sich, wenn du es veränderst.

Auf Nichte und Senator folgte ein weiteres Familienmitglied, Gerd Moebius, der an die außergewöhnliche Schullaufbahn seines Bruders erinnerte. Der besuchte die älteste Schule des deutschsprachigen Raums, das Melanchton-Gymnasium in Nürnberg, 1526 gegründet. Ein kurzer Blick in die Liste berühmter Schüler brachte neben Reiser den namhaften Autoren Hans Magnus Enzensberger hervor.

Endlich entühllt: die Stele die an Rio-Reiser erinnert, um einen Kopf von Gloria Viagra überragt © QM ZKO

Ein Büro für Hausbesetzung am Rio-Reiser Platz?

Der nächste Redner hatte trotz Alter seinen Protestgeist ganz und gar nicht verloren: Nikel Pallat, Manager der Band Anfang der 70er Jahre. 1971 war er medial aufgefallen, weil er in einer Talk-Show probierte, mit einem Hackebeil den Tisch zu zerschlagen. Mit Rio werde auch die Band geehrt, der Tag sei keine Nostalgie Veranstaltung, sondern wann werden wieder Häuser besetzt? Es sei sinnlos zu erwarten, dass etwas sinnvolles von Oben kommen werde, man muss die Sachen selber in die Hand nehmen. War das ein Seitenhieb an die Anwesenden Politiker? Auf jeden Fall wurde es nicht so verstanden.

Die Wohnungspolitik sei schon vor 50 Jahren „im Arsch“ gewesen, sie wäre es noch immer, vielleicht sei es sogar noch schlimmer. Sein Vorschlag: Ein Büro für Leerstand, eine Art Hausbesetzer-Büro am Rio-Reiser Platz. Er würde von Bremen einmal im Jahr kommen und Ladendienst verrichten, und wenn es Finanzierungsprobleme für dieses Büro geben sollte, weil man nicht genug Stifter findet, könnte man eine Lösung finden. Er schloss den Redeteil der Veranstaltung mit den Sätzen: Es ist unsere Zukunft, unser Land, nehmen wir es in die Hand.

© QM ZKO Geduldig gab Claudio Roth Interviews, sogar einer Schulzeitung

Heinrich und Rio hätten sich gut verstanden

Der ehemalige Namensgeber Heinrich wird wohl vollkommen in Vergessenheit geraten, niemand wird sich je erinnern, dass er in jungen Jahren ein bisschen gegen Napoleon säbelte, bevor sich der oft kränkelnde sich ab 1819 nach Rom zurückzog. Die letzten 20 Jahre seines Lebens war er übrigens bettlägerig. Vermutlich war es eher ein sensibler Preuße und wie irgendjemand während der Veranstaltung sagte, Heinrich von Hohenzollern und Rio Reiser hätten sich sicher gut verstanden.

Viel Medienecho verursachte die Namensänderung:

Andere schrieben auch darüber, natürlich alle Berliner Zeitungen, der RBB, der Deutschlandfunk, aber auch ferne Publikationen wie die Stuttgarter Zeitung, die Süddeutsche Zeitung und sogar die Neue Zürcher Zeitung.